Prof. Dr. Jörg Franke // Klinikum Magdeburg
Eine vollautomatische Methode zur Bestimmung von Parametern der sagittalen Balance der Wirbelsäule
Herausforderung
Die Messung von Parametern der sagittalen Balance (SB) ist für die Behandlung von Wirbelsäulenerkrankungen unerlässlich. Sie ist jedoch ein zeit- und arbeitsintensiver, manueller Prozess.
Lösung
RAYLYTIC hat in Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Jörg Franke einen vollautomatischen Algorithmus zur Bestimmung dieser SB-Parameter entwickelt und systematisch evaluiert.
Ergebnisse
Der Algorithmus zeigte eine ausgezeichnete Zuverlässigkeit im Vergleich zu manuellen Messungen durch erfahrene Ärzte. Die Ergebnisse der Validierungsstudie wurden Juli 2022 im European Spine Journal veröffentlicht.
Auszug
RAYLYTIC hat sich mit Prof. Dr. Jörg Franke, Chefarzt der Orthopädie und Unfallchirurgie am Klinikum Magdeburg, zusammengetan, um ein vollautomatisches Verfahren zu entwickeln. Dieses reduziert den Zeit- und Arbeitsaufwand für die Berechnung der wesentlichen prä- und postoperativen SB-Parameter erheblich.
Herausforderung: Wesentliche, aber zeitaufwändige Messungen
Parameter der sagittalen Balance in der klinischen Routine
Die Wiederherstellung der SB ist das Ziel vieler Wirbelsäulenoperationen. Radiologische Parameter der SB korrelieren nachweislich signifikant mit den Ergebnissen der Patienten, wie der Lebensqualität oder krankheitsspezifischer Behinderung. Die genaue prä- und postoperative Analyse von SB-Parametern ist daher für die erfolgreiche Behandlung von Wirbelsäulenerkrankungen unerlässlich.
Für Prof. Dr. Franke hat die globale und segmentale Analyse dieser geometrischen Zusammenhänge zwischen Wirbelsäule und Becken großen Einfluss auf seine chirurgischen Behandlungsstrategien. Präoperativ kann die Analyse als Entscheidungshilfe bei chirurgischen Eingriffen genutzt werden, während sie postoperativ als Qualitätsmaßstab dienen kann – um bspw. festzustellen, ob durch die Operation die SB erreicht und erhalten wurde.
Einschränkungen gegenwärtiger klinischer Ansätze
Die gegenwärtigen klinischen Ansätze zur Bestimmung von SB-Parametern sind nicht nur zeit- und arbeitsintensiv, sondern hängen auch von der subjektiven Erfahrung des Beobachters ab. Es gibt zwar Software für die Messung von SB-Parametern, aber sie erfordert immer noch manuelle – und damit subjektive – Benutzereingaben für die Platzierung der anatomischen Landmarken.
Darüber hinaus haben höhere Bildvolumen und komplexere Fälle zu einer zusätzlichen Belastung für die Mitarbeiter von Prof. Franke geführt. Seinen Angaben nach können diese manuellen Messungen bis zu 15 Minuten pro Patient in Anspruch nehmen – eine große Herausforderung für die radiologische Abteilung seiner Klinik, die mit knappen Ressourcen rechnet.
Zusammengenommen erschweren diese Einschränkungen die objektive und effiziente Analyse von SB-Parametern für verschiedene Zwecke: Klinische Diagnostik, Behandlungsplanung, wissenschaftliche Forschung, Register und Big-Data-Analysen. Und das vor dem Hintergrund der sprunghaft gestiegenen Arbeitsbelastung in der Radiologie, die sich in den letzten 15 Jahren verdreifacht hat.
Ein vollautomatisches Tool zur Messung von SB-Parametern könnte Kliniken nicht nur von manuellen Routineaufgaben befreien, sondern auch die Patientenversorgung verbessern, indem es Erkenntnisse aus großen Datenbeständen gewinnt.
Lösung: Vollautomatischer Algorithmus zur Bestimmung der SB-Parameter
RAYLYTIC hat mit Prof. Franke kollaboriert, um einen Algorithmus zu entwickeln und systematisch zu bewerten, der folgende SB-Parameter vollautomatisch bestimmt:
- Beckeninklination
- Sakralneigung
- Beckenneigung
- L1/S1 Lendenlordose
- T4/T12-Thoraxkyphose (TK)
- Spino-Sakral-Winkel (SSA)
Jüngste Forschungsarbeiten haben zwar das Potenzial der künstlichen Intelligenz (KI) zur automatischen Extraktion komplexer radiologischer Parameter aus medizinischen Bildern mit hoher Genauigkeit und Präzision1 aufgezeigt. Sie haben jedoch die Validierung anhand kleiner Patientenkohorten und ausschließlich präoperativer Bilddaten durchgeführt.
Die von RAYLYTIC gemeinsam mit Prof. Franke initiierte Studie hingegen validierte den vollautomatischen Algorithmus anhand einer größeren, 170 Patienten umfassenden, Kohorte sowohl mit als auch ohne Wirbelsäuleninstrumentierung. Außerdem wurde in der Studie zwischen prä- und postoperativen Bildern unterschieden. Postoperative Bilder sind für KI-basierte Analysetools eine notorische Herausforderung, da es schwierig ist, anatomische Landmarken in Bildern mit Cages, Schrauben und anderen Instrumenten zu platzieren.
Durch den Verzicht auf spezifische Einschlusskriterien und die Beschaffung der Bilder aus der Routineversorgung wurde außerdem von Anfang an eine realistische und umfassende Darstellung des klinischen Alltags geschaffen.
Der Algorithmus selbst basiert auf zwei separat gefaltenen, neuralen Netzwerken (englisch: convolutional neural network, CNN). Das erste erkennt und lokalisiert relevante anatomische Strukturen in den Röntgenbildern, das zweite setzt Landmarken auf den Wirbelkörpern, dem Kreuzbein und den Femora. Diese können dann zur Berechnung von Spinopelvic-Parametern in der Sagittalebene verwendet werden.
Ergebnisse
Ausgezeichnete Zuverlässigkeit
Im Vergleich zu den von Menschen durchgeführten manuellen Messungen zeigten die von der KI generierten Messungen durchweg eine ausgezeichnete Zuverlässigkeit. Der Algorithmus konnte alle Parameter in 95% aller präoperativen Bilder und in 91% aller postoperativen Bilder mit ausgezeichneten ICC-Werten bestimmen (PräOp-Bereich: 0,83-0,91, PostOp: 0,72-0,89). Die mittleren Fehler waren für SSA am kleinsten und für TK am größten.
Künftige Möglichkeiten
Diese Ergebnisse schaffen die Grundlage für den Einsatz des Algorithmus in der klinischen Routine. So Prof. Franke: „Um Deep-Learning-Studien wie diese in klinisch brauchbare Lösungen zu verwandeln, muss der Algorithmus für alle möglichen Parameter der sagittalen Balance validiert werden.“
Für ihn würde dieser Fortschritt eine enorme Zeitersparnis bedeuten – nicht nur wegen der Geschwindigkeit des Algorithmus, der SB-Parameter in weniger als einer Minute bewertet, sondern auch, weil KI „jederzeit verfügbar ist.“ In der wissenschaftlichen Forschung ist der Algorithmus vielversprechend für die schnelle Analyse großer Registerdatensätze und beschleunigt die Geschwindigkeit, mit der Forscher und Kliniker Schlussfolgerungen und Zusammenhänge ziehen können.
1. Grover, P., Siebenwirth, J., Caspari, C. et al. Can artificial intelligence support or even replace physicians in measuring sagittal balance? A validation study on preoperative and postoperative full spine images of 170 patients. Eur Spine J 31, 1943–1951 (2022).